Der wahre Zweck eines Buches ist, den Geist hinterrücks zum eigenen Denken zu verleiten.
Marie von Ebner-Eschenbach
LESEPROBEN
Autos, Dübel Teddybären
Das Wirtschaftssammelsurium Baden-Württemberg
Ob Märklin, Steiff, Fischer oder Bosch – jeder kennt die Marken- und Firmennamen, die für Know-how „Made in Baden-Württemberg“ stehen. Fundiert, dabei kurzweilig und in übersichtlichen Häppchen führt das Buch durch die regionale Wirtschaftsgeschichte der letzten 200 Jahre. Es erzählt von kreativen Köpfen und bahnbrechenden Ideen, von bescheidenen Anfängen oder großartigen Erfolgen. Kurios und höchst unterhaltsam
- Spannende Wirtschaftsgeschichten aus Baden-Württemberg
- Informative Häppchenlektüre für zwischendurch
- Kurzweiliges Lesevergnügen
Unterhosen für Oscar Wilde (Kap. Schick&Strick)
Die Vereinigte Trikotagen Vollmoeller AG war zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts das weltweit größte Textilunternehmen ihrer Art. Der Bahnhofsvorplatz in Stuttgart-Vaihingen markiert das ehemalige Gelände des einstigen Global Players, der 3.000 Mitarbeiter hatte und von 1881 bis 1971 hier produzierte. Robert Vollmoeller aus Ilsfeld bei Heilbronn produzierte bequeme Unterhosen und -hemden en masse. Auf die Jägersche Wollphilosophie hielt er große Stücke. Der Textilunternehmer war ein weltoffener und gewandter Mann. Vollmoeller stand in Kontakt mit Intellektuellen wie Oscar Wilde und George Bernard Shaw, und man mag es kaum glauben, aber beide trugen die wunderbaren wollenen Unterhosen und propagierten die Reformwäsche aus Stuttgart. Bald avancierte England bis 1914 zum zweitgrößten Absatzmarkt.
Uralter Wirtschaftsadel (Aus dem Kapitel Bewegt&Unterwegs)
Welcher Automobilzulieferer kann seine Herkunft schon auf das Jahr 1365 zurückführen? Die SHW AG ist zwar erst seit 1925 im Automobilgeschäft, als unter der Leitung von Wunibald Kamm der Prototyp eines Autos gebaut wurde, das erst Jahrzehnte später Eingang in die Serienproduktion fand. Aber im Namen des Unternehmens SHW steckt eine noch längere Geschichte. Die Schwäbische Hüttenwerke G.m.b.H. (SHW) wurde 1921 gegründet, um die Eisenerzvorkommen in Württemberg zu verwerten. Diese gehen auf die traditionsreichen staatlichen Hüttenwerke zurück, etwa in Abtsgmünd (1611 gegründet), Wasseralfingen 1671), Ludwigstal (1694). Das Hüttenwerk in Königsbronn auf der Ostalb ist auf das Jahr 1356 urkundlich belegt. Die zunächst herzoglichen und nach 1806 königlichen Hüttenwerke gehören damit zu den ältesten Industrieunternehmen Deutschlands. Um sich gegen wachsende Konkurrenz zu behaupten, modernisierte man nach 1921 weiter in den Bereichen Eisengießerei, Walzwerksproduktion und Maschinenbau. Statt Hochöfen erhielt die Eisenverarbeitung Vorrang. Seitdem hat sich die SHW AG zu einem weltweit aktiven Technologieführer von Fahrzeugbauteilen entwickelt. Weitere Produktionsstandorte befinden sich in Wasseralfingen, Tuttlingen-Ludwigstal sowie Neuhausen ob Eck und Bad Schussenried.
Berlusconis Charme auf der Alb (Aus dem Kapitel Genuss&Geschmack)
Wer glaubt, dass Mozzarella nur in Italien zu haben wäre, täuscht sich. Hierzulande nennt sich der weiße Käse folgerichtig Albzarella. Zwei Albbüffelherden sind für die Milchproduktion zuständig. Hier ist „Berlusconi“ aktiv: Der Bulle dieses Namens wurde eigens aus Italien auf die Schwäbische Alb gebracht. Die Büffeldamen lieben seinen Charme, versichert Hofbetreiber und Käsemeister Helmut Rauscher. Er hat herausgefunden, dass der Milchertrag am besten ist, wenn er seine Albbüffelkühe mit klassischer oder Albhorn-Musik verwöhnt. Eine Albbüffelkuh gibt mit fünf Litern am Tag viel weniger Milch als eine Hochleistungsmilchkuh. Die schwarzen Büffel gehören zu einer robusten und urtümlichen Rasse, die ein Züchter 2005 aus Rumänien importierte, um sie zur Landschaftspflege einzusetzen. Die gemütlichen Albbüffel verschmähen selbst dornige Hecken, Disteln und Brennnesseln nicht und lieben ein gepflegtes Schlammbad. Die zutraulichen Dickhäuter haben viele Fans und gehören zu den bekanntesten Qualitätsmarken des Biosphärengebiets Schwäbische Alb.
Die größten Maulwürfe (Aus dem Kapitel Achse&Schraube)
Ihr Konto ist gut gefüllt und Sie möchten sich ein wenig durchs Gestein bohren? In Baden-Württemberg ist das kein Problem, denn der mit weitem Abstand führende Hersteller für Tunnelvortriebsmaschinen kommt nicht etwa aus der Schweiz, sondern aus Schwanau, wo man auf der einen Seite Frankreich, auf der anderen Seite den Schwarzwald im Blick hat. Die 1977 gegründete Herrenknecht AG ist der weltweit führende Hersteller von Tunnelvortriebsmaschinen und bietet sowohl einen Mietpark an als auch Projektmanagement und Gebrauchtmaschinen. Stuttgart 21, wo die Tunnelbohrer aus dem Badischen mit schwerem Gerät unterwegs sind, ist gegen Riesenprojekte wie den Gotthardbasistunnel oder die Erweiterung des Elbtunnels geradezu ein Klacks für die „Trude“, die dabei eingesetzte, wackere Vortriebsmaschine. Das erst 1977 gegründete Unternehmen kann es auch einige Nummern kleiner und bietet Mikromaschinen für den Ausbau der Kanalisation an. Das Produktionsprogramm deckt Querschnitte von 10 Zentimetern bis 19 Meter ab. 2008 allerdings schaute der Tunnelbohrer so richtig in die Röhre, als der russische Oligarch Roman Abramowitsch zum Fußballclub und neuer Freundin auch noch einen Tunnelbohrer wollte, den Riesenauftrag dann aber stillschweigend stornierte.
Knall und Peng (Aus dem Kapitel Hexenküche&Co.)
Puppen aus der Hexenküche? Aber ja. Als diese noch aus Zelluloid hergestellt wurden, war das mitunter eine höchst explosive Angelegenheit. Das erste Modell der berühmten Schildkröt-Puppen wurde 1896 als wasserfeste „Badepuppe“ angepriesen. Das waren die bis dahin üblichen Porzellanpuppen auch, aber nichts für tapsige Kinderhände und viel zu teuer für Normalverdiener. Die Schildkröte als Warenzeichen und Firmenlogo symbolisierte mit ihrem harten Panzer, wie robust das Material war. Nicht allein dieses war eine Revolution in der Puppenherstellung, auch eine eigens entwickelte Blas-Press-Methode. So ließen sich kostengünstig auch Tischtennisbälle aus Celluloid produzieren. 1873 hatten die Brüder Lenel mit dem Kaufmann Friedrich Bensinger und dem Bankhaus Hohenemser & Söhne in Mannheim die Rheinische Hartgummi-Waren-Fabrik gegründet. Anfangs wurden so banale Dinge wie Schirm- und Stockgriffe, aber auch Presskämme produziert und Gießformen für Zinnsoldaten – das deutsche Kaiserreich lässt grüßen. Durch die Produktion von Celluloid ab 1886 und das Geschäft mit den Puppen eroberte das Unternehmen weltweit diesen Markt. Um 1900 entsprach die jährliche Roh-Celluloidproduktion in Mannheim einem Drittel der damaligen Weltproduktion. Spitznamen des größten Arbeitgebers vor Ort waren „die Knall“ oder „die Peng“, da es bei der Celluloidherstellung immer wieder zu Explosionen kam. Weil es öfter brannte, wurde ein Löschwasserturm gebaut. Er ist einer der wenigen Relikte, die erhalten sind, denn 1975 war Schluss mit der Puppenproduktion. „Strampelchen“ (1935), „Inge“ und „Hans“ (1933) oder „Christel“ (1938) führten jahrzehntelang die Bestseller-Listen an.
Eine bessere Welt (Aus dem Kapitel Geld&Wohltat)
Komfortabler Wohnraum, genug zu essen, ein gewisser Komfort und Bildung, all das ist für uns selbstverständlich. Nicht nur während der Industrialisierung lebte der größere Teil der Bevölkerung in einfachen bis ärmlichsten Verhältnissen. Ein schlichtes Tagelöhnerhaus im Freilichtmuseum Beuren auf der Alb zeigt dies eindrücklich. In den rasant wachsenden Städten menschenwürdigen Wohnraum zu schaffen, gehörte zu den drängendsten Aufgaben dieser Zeit. In Mannheim sind noch einige wenige Häuser zweier einst großer Arbeitersiedlungen ehemaliger Papierfabriken zu sehen: die Papyruskolonie, 1908 nach Plänen des Stuttgarter Architekten Philipp Jakob Manz errichtet, und die Zellstoffsiedlung. Neben Familienwohnungen gab es für die unverheirateten Arbeiter dort Schlafsäle mit insgesamt 375 Betten. Um zuverlässige Arbeitskräfte zu halten, ließ der Textilindustrielle Arnold Staub 1857 im Filstal eine beispielhafte Arbeitersiedlung anlegen. Zu den Einrichtungen gehörten Schule, Spital und Apotheke, Bibliothek, Lesezimmer, Kaufladen, Badehaus, Waschanstalt sowie Speise- und Festsäle. Die gut erhaltene Siedlung in der Gemeinde Kuchen zählt zu den interessantesten Anlagen dieser Art in Mitteleuropa. Ein möbliertes Schauhaus im Zeppelindorf in Friedrichshafen zeigt, wie Arbeiterfamilien zu verschiedenen Zeiten gelebt haben. In Stuttgart ist die Siedlung Ostheim, wo um 1900 mehr als 1.000 Wohnungen entstanden, immer noch ein lebendiges Wohnviertel. Initiiert hatte sie der Stuttgarter Bankier Eduard Pfeiffer (1835-1921), damals einer der reichsten Bürger in Württemberg. Der studierte Ökonom und Ingenieur, weitgereist und gebildet, hätte seinen Wohlstand auf luxuriöseste Art genießen können. Doch Pfeiffer sah in seinem Vermögen eine Verpflichtung und machte sich einen Namen als Sozialreformer. Er regte nicht nur eine Arbeitsvermittlung an, ein Vorläufer des heutigen Arbeitsamtes, sondern gründete 1863 auch den Stuttgarter Consum- und Ersparnisverein – ein Vorbild für die meisten Konsumgenossenschaften in Deutschland.
Einmal rundherum - Ein Lesebuch für Stuttgart und die Region
Vom Ententeich in den Ärmelkanal
"Wasser ist einfach etwas Wunderbares. Nur wenn zu viel des Guten von oben kommt, sind wir griesgrämig und sollten doch glücklich sein, dass wir nicht in deutschen Landstrichen unser Dasein fristen müssen, wo es alle naselang regnet. Die jährliche Niederschlagsmenge in und um Stuttgart ist mit rund siebenhundert Litern pro Quadratmeter erfreulich niedrig. Unser herzlicher Dank geht an den Schwarzwald, der uns das nasse Wetter, das üblicherweise von Westen kommt, zum Großteilvom Hals hält und seine dankbaren Tannen den Großteil schlucken lässt. Dennoch reicht es aus, um Bäche, Flüsse und Seen hierzulande gut zu füllen. Wenn sich die Flüsse mit dem Meer vermischen, planschen nicht allein Pottwale oder Sardinen darin. Ab und zu strampeln auch menschliche Wesen darin herum, wie etwa Gertrud Ederle. Die Tochter deutscher Auswanderer lernte bei einem Verwandtenbesuch in Bissingen/Teck das Schwimmen im örtlichen Ententeich und machte später Furore als Schwimmerin. 1926 durchquerte sie den 56 Kilometer langen Ärmelkanal zwischen Frankreich und England und gewann eine noch dazu olympische Goldmedaille.
(Aus dem Kapitel "Wasser")
Romeo und Julia in Stuttgart
Liebe ist schön und endet manchmal tödlich – so wie bei Romeo und Julia. In Verona sieht man nur den Balkon, auf dem Julia gestanden haben soll, während Romeo sie anschmachtete. In Stuttgart hingegen sind beide leibhaftig auferstanden. Romeo wohnt in der Schozacher Straße 40, Julia in der Schwabacher Straße 15, doch kaum jemand schert sich groß um sie.Die beiden bilden zwei markante Hochhäuser im Stadtteil Zuffenhausen. Hans Scharoun hat sie entworfen und sobenannt. Der Architekt zählt zu den bedeutendsten Vertretern der organischen Architektur. Sein bekanntestes Gebäude ist die Berliner Philharmonie. In Zuffenhausen hat er mit asymmetrischen Grundrissen, zackenförmig hervortretenden Balkonen sowie unterschiedlichen Farben gearbeitet und so zwei Gebäude geschaffen, die der expressionistischen Architekturströmung der 1950er-Jahre folgen. Schräge Zimmerzuschnitte erleichtern die Möblierung nicht unbedingt. Dafür gibt es überall jede Menge Balkone mit bester Aussicht, von denen aus die Stuttgarter Romeos und Julias nach Verehrerinnen und Verehrern Ausschau halten können. Es gibt sie, die große Liebe.
(Aus dem Kapitel "Liebe")
Der Herzog als Baumräuber
Er baute Schlösser, die wir heute bewundern, doch der Mann war eine Pest für die Menschen hierzulande. Schloss Solitude wurde auf fremdem Boden erbaut, ganz einfach, weil dem Herzog die Aussicht dort gefallen hatte. Dass das Land einem benachbarten Dorf gehörte, störte ihn nicht. Enteignungen funktionierten damals per einfachem Fingerzeig. Nicht genug damit, ließ der Prasser vor dem Herrn, der sich in puncto Verschwendungssucht mit den französischen Königen messen konnte, auf Bergen Seen ausheben.Tausende von Bauern wurden damit beschäftigt – selbstverständlich ohne Lohn. »Die Wälder wurden illuminiert: Aus künstlichen Grotten inmitten derselben sprangen ganze Heere von Faunen und Satyrn und tanzten zur Mitternachtsstunde Ballett«, berichtet der Chronist Carl Eduard Vehse. Zu den Geburtstagsfeierlichkeiten 1763/64 verwandelte man den Schlosshof mit einer Festarchitektur in den »Palast der Pracht«. Im selben Jahr wurden sogar ganze Wälder geplündert, um bei Schloss Solitude einen Wildpark anzulegen. Die Bäume kamen aus der Gegend um Göppingen. Fürs Ausgraben und den Transport nach Stuttgart mussten die Göppinger sorgen – die hatten sicher nichts Besseres zu tun. Als der nimmersatte Herzog zusätzlich 2950 Buchen und 4539 Linden orderte, fragte die Stadt doch zaghaft nach, ob es auch etwas weniger sein dürften. Nach diesem Raubbau blieben im ganzen Göppinger Wald nur 150 Linden übrig – dabei hätte ein Baum genügt, um diesen überdrehten Wichtigtuer daran aufzuknüpfen.
(Aus dem Kapitel "Sündenfälle")
333 Entdeckungen
Im Eisenbahnschlaraffenland
Die Lokomotiven auf der durchgehenden Strecke von Stuttgart nach Friedrichshafen schuften bis heute an der Geislinger Steige, deren Überwindung zu der damaligen Zeit als technische Meisterleistung galt.Dort führte ursprünglich ein alter Handelsweg über die Schwäbische Alb. Bereits die Römer stapften hier gen Süden. Der schnellste Eisenbahnweg führt bis heute über eine über fünf Kilometer lange Rampe, die einen Höhenunterschied von 112 Metern überwindet. Die engsten Kurvenradien messen nur 278 Meter. Das klingt für den Laien nicht besonders, bedeutet aber, dass dieser Streckenabschnitt wie eine Gebirgsbahn trassiert ist. Die Höllentalbahn im Schwarzwald von Freiburg nach Donaueschingen ist zwar noch steiler und offiziell als Hauptbahnstrecke klassifiziert. Die Steigung zwischen Geislingen und Amstetten beträgt stolze 22,5 Promille. Damit gilt die 1850 eröffnete Trasse als erste Gebirgsquerung einer wichtigen Eisenbahnstrecke in Europa. Der Betrieb war von Beginn an eine besondere Herausforderung. Eine Dampflokomotive alleine schaffte die Strecke nicht. Jeder Zug musste nachgeschoben werden. Dementsprechend groß sind die Bahnhöfe und Bahnbetriebswerke dimensioniert.
Dass die Geislinger Steige gebaut wurde, lag an der territorialen Flickschusterei. Die Strecke über die Alb verlief durchgehend auf württembergischem Staatsgebiet – ein Vorteil gegenüber der einfacheren Trassenführung durch die Täler von Rems, Kocher und Brenz nach Ulm. Ausserdem war die Linie durchs Filstal einfach kürzer, basta. Zuvor schlug man sich mit Gutachten und Krawallen herum, weshalb die Bauarbeiten deutlich länger dauerten. Professoren schlugen Seilzüge vor, um die Bahn über die Alb zu ziehen und die schlecht bezahlten Bauarbeiter machten nicht immer so mit, wie vorgesehen. Dennoch bot die Riesenbaustelle rund 3.000 Arbeitern Lohn und Brot. Die älteste württembergische Aktiengesellschaft geht auch auf den Bau der Geislinger Steige zurück. Die WMF, heute als Spezialistin für preisgekröntes Design rund um Küche und Kaffeemaschine bekannt, entstand aus der Metallwarenfabrik Straub & Schweizer. Der Geislinger Müller Daniel Straub hatte die Goldgrube an der Geislinger Steige gerochen und flugs eine Reparaturwerkstätte eingerichtet, die so gut lief, dass er 1850 die Maschinenfabrik Geislingen gründete. Ein damals noch unbekannter Konstrukteur arbeitete drei Jahre lang, bis 1865 für die Geislinger - Gottlieb Daimler. 30 Jahre nach der Gründung fusionierten die Geislinger mit der Metallwarenfabrik Ritter & Co aus Esslingen. Die WMF war geboren.
(aus dem Kapitel "Eisenbahn")
Aromatisches Kraut
Früher wuchsen gegen den Hunger viele Kräuter. In der Region Stuttgart war es das Filderkraut, benannt nach dem eher unspektakulären Landstrich. Das leicht gewellte Land, das an der Bernhartshöhe, mit 549 Metern, der höchsten Punkt Stuttgarts bei Vaihingen und am Bopser Mittelgebirgsniveau erreicht, hat es in sich. Die Hochebene besitzt eine der fruchtbarsten Böden Deutschlands. Auf dem Lösslehm fühlt sich nicht nur das Spitzkraut besonders wohl. Filder, so nannten unsere mittelalterlichen Vorfahren ihre Felder und Äcker. Schon vor 7500 Jahren wurden hier die ersten Äckerle bestellt und haben ihre Nutzer gut ernährt. Die erste urkundliche Erwähnung des Krautanbaus stammt aus dem Jahre 1501. Bis heute ist unklar, ob es durch Mutation oder Züchtung entstanden ist. Angeblich soll seine Züchtung auf die Mönche des Denkendorfer Kloster zurück gehen. Womöglich liegt es auch an der besonderen Art des Filderbodens, dass dem Filderkraut ein besonderes Aroma zugesprochen wird, ähnlich wie beim Weinbau die Bodenbeschaffenheit den Geschmack des Rebensaftes beeinflusst. Nicht umsonst wurde das Filder-Spitzkraut in die Arche des Geschmacks bei Slow Food aufgenommen. Das Spitzkraut war ehemals das Wahrzeichen der Region, und die krautverarbeitenden Fabriken spielten lange Zeit neben dem Krauthandel eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben. Das weiße Kraut war ein gewichtiger Teil der Pfarrbesoldung, des sogenannten kleinen Zehnten, den die Kirchengemeinde abzuliefern hatte, damit der Pfarrer nicht verhungerte und seine Schäflein im Gegenzug mit bibelfester Kost füttern konnte. So war Echterdingen bis ins 19. Jahrhundert hinein als die am besten besoldete Pfarrei des gesamten Landes bekannt. Philipp Matthäus Hahn, der von 1781 bis 1790 dort als Pfarrer wirkte, aß selbst gerne Filderkraut und erwähnte es mehrmals in seinen Echterdinger Tagebüchern.
(Aus dem Kapitel "Pflanzen")
Alle lieben Cäsar Otto
"Vor hundert Jahren waren die Verse des Stuttgarter Dichters Cäsar Otto Hugo Flaischlen (1864 – 1920) Kult. Sein Stern am Poetenhimmel verblasst, aber damals schrieb Flaischlen mehrere Bestseller und war ein literarischer Popstar. Seine Bücher erreichten Auflagen von bis zu 300 000 Exemplaren. An manchen Tagen erreichten ihn bis zu fünfhundert Briefe seiner Fans. 1903 schrieb Flaischlen ein Gedicht, das die meisten kennen, aber dessen Verfasser gründlich vergessen wurde: »Hab’ Sonne im Herzen, ob’s stürmt oder schneit, ob der Himmel voll Wolken, die Erde voll Streit.« Nachdem sich Kanonendonner und Kriegsqualm des Ersten Weltkriegs verzogen hatten, erwies sich sein Aufruf zur inneren Einkehr als Orakel und wurde von Hunderttausenden gerne gegen die Wehwehchen dieser trüben Zeit als literarische Medizin eingenommen.
Der Mann mit dem kaiserlichen Vor- und dem bodenständigen schwäbischen Nachnamen profilierte sich auch als Mundartdichter und erzielte mit dem Bändchen »Von Derhoim und Drauße« hohe Auflagen. Wie viele Schwaben zog es auch Flaischlen nach Berlin, wo er als Literaturredakteur tätig war. Die für seine Landsleute typische Zerrissenheit zwischen dem Ruf der Ferne und der Heimatverbundenheit greift Flaischlen in seinem Gedicht »I müeßt koi Schwôb sei!« auf: »De Böndel gschnürt! uf d Eisebah’! / bhüet Gott üch, recht ond schlecht!/[...] koi Angst! i komm scho z’recht! / So schö s jô en d’r Hoimet ist, / […] i müeßt koi Schwab sei, mecht i net / au naus emôl en d Welt!« Flaischlens Dramen und Romane rühmten die Kritiker als revolutionär. Dennoch verschwanden seine Werke bald aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Sein Ehrengrab findet sich auf dem Stuttgarter Pragfriedhof vor dem Krematorium."
(Aus dem Kapitel "Sterne")
Stuttgart! Das Buch
Stuttgart - ein wirtschaftlicher Spätzünder
"Dem ursprünglichen Merowingerdörfchen und dem folgenden idyllisch gelegenen Gestüt im Nesenbachtal war es nicht in die Wiege gelegt worden, dass sich hier einmal die exportstärkste deutsche Stadt ausdehnen würde, die rund 60 Prozent ihrer industriellen Produktion in alle Welt verkauft. Weder zu Bismarcks Zeiten, als im Ruhrgebiet richtig Kohle geschaufelt und gescheffelt wurde, noch in den 1920-er Jahren, als man im fernen Berlin ein paar goldene Jahre feierte, war absehbar, wie stark sich Stuttgart wirtschaftlich entwickeln würde. Wie haben die Stuttgarter das bloß gemacht? Die sechstgrößte Stadt Deutschlands zählt zu den einkommensstärksten und wirtschaftlich bedeutendsten Metropolen Deutschlands und Europas. Bis die Garagenbastler zu Global Playern wurden, ist viel Wasser den Neckar hinunter geflossen."
Es war einmal eine Dampfmaschine
"Pferdefuhrwerke zuckelten die Straßen entlang. Auf dem Acker wurden die Kartoffeln von Hand gehackt. Wasserräder drehten sich mal mehr, mal weniger gemütlich. Man ging zu Fuß. Hammer und Amboss, Axt und Säge, das war die Industrie. Die Arbeit war hart und das Mieder eng geschnürt. Als im 19. Jahrhundert die ersten Dampfmaschinen nach Deutschland kamen, entwickelte sich Stuttgart nach jahrhundertelangem Dornröschenschlaf zu einem brodelnden Kessel der Industrialisierung. Einer der ersten Schrittmacher war Gotthilf Kuhn, der 1851 in Stuttgart-Berg eine mechanische Werkstätte einrichtet. Die Maschinen- und Kesselfabrik, Eisen- und Gelbgießerei in der Stuttgarter Straße 13 entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zur bedeutendsten württembergischen Dampfmaschinenfabrik und gehörte damals zu den größten deutschen Unternehmen. Kuhn war kein Ausbeuter. 1860 führt er eine Lehrwerkstatt ein - vermutlich die erste in seiner Branche. Die von ihm praktizierte Ausbildung übernehmen später zahlreiche andere Industriepioniere. Vier Jahre nach der Gründung richtet er eine firmeneigene Krankenkasse ein. 1872 folgt der Zehn-Stunden-Arbeitstag. Zu jener Zeit waren zwischen 12 und 14 Stunden üblich.
Kuhn nimmt 1856 die erste private Gießerei in Württemberg in Betrieb. Mit dem Stuttgarter Gusseisen werden unter anderem die Bahnhöfe der Gotthardbahn und die Gemüsehalle in Stuttgart gebaut. 17 Jahre nach der Gründung ist Kuhn der bedeutendste Dampfmaschinenhersteller des Landes. Kuhn und sein Kapitalgeber, der Chininfabrikant Jobst verdienten gut am Hunger nach Gusseisen und Dampfmaschinen. Der eine wird reich und der andere mit einer jährlichen Rendite von bis zu zehn Prozent noch ein bisschen reicher. Max Eyth nahm nach seinem Studium am Stuttgarter Polytechnikum hier seine erste Stelle an und beeindruckte den Chef mit vielen guten Ideen. Damals wie heute waren Innovationen entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg. Regelmäßig meldete die Firma Patente an."
Stuttgart und seine Flugzeugverrückten
"Hätten die Daimler-Nachfolger die Vision des Gründers wahr gemacht, einen Konzern zu schmieden, der zu Lande, zu Wasser und in der Luft mobil ist, dann hätte Stuttgart heute vielleicht einen der größten Flugzeugbauer weltweit. Dennoch ist der Flugzeugbau in Stuttgart weniger mit dem Namen Daimler verbunden als mit besonderen Persönlichkeiten, wie Robert Vollmöller, Hanns Klemm und Hellmuth Hirth.Die Begeisterung, auch die Lüfte zu erobern, steckte viele an. Zwei Söhne des Textilfabrikanten Vollmöller aus Stuttgart-Vaihingen wagten sich an die neue Technik. 1904 begann der erst 15 Jahre alte Hans Robert Vollmöller gemeinsam mit seinem Bruder Karl ein motorgetriebenes Flugzeug zu konstruieren. Das letzte Modell ist in der Flugwerft des Deutschen Museums besichtigen und zählt zu den ältesten deutschen Motorflugzeugen. 1910 schafften sie in sechs Metern Flughöhe 300 Meter – zu dieser Zeit galt dies als Langstreckenflug."
Es zischt, spritzt und riecht: Chemiefirmen aus Stuttgart
"Autos und Maschinen waren und sind die Domäne der Stuttgarter. Aber Chemie? Doch heute steckt sie überall drin, auch in jedem Auto: Lackierung, Kunststoffe, Metalle, Abgastechnik, Kraftstoff. Als die Industrialisierung noch in den Kinderschuhen steckte, gehörte die Automobilindustrie noch nicht zu Hauptkunden. Damals profitierten viele andere Branchen und die privaten Haushalte von den nützlichen Eigenschaften neu entwickelter Farben, Lacke, Firnisse oder Öle. Kleine Drogenkaufleute wurden zu gewichtigen Unternehmern – auch in Stuttgart. Wer im 19. Jahrhundert mit Drogen handelte, war kein Krimineller, sondern ein Fachmann aus der Chemiebranche oder Kaufmann mit pharmazeutischem Wissen. Ein Unternehmer der ersten Stunde war Friedrich Jobst, der 1808 in Stuttgart eine Drogen- und Chemikalienhandlung gründete, die pflanzliche Arznei- und Wirkstoffe produzierte. Daraus entwickelte sich 1826 die erste deutsche Chininfabrik. Als die Firma 1864 nach Feuerbach zog, gab sie den Startschuss für die Industrialisierung des damaligen Stuttgarter Vorortes. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es aufgrund der günstigen Rahmenbedingungen einen enormen Zuzug von Firmen insbesondere der chemischen und metallverarbeitenden Industrie nach Feuerbach, wodurch das Wengerterdorf in kürzester Zeit zum bedeutenden Industriestandort aufstieg."
Schick in Strick
"Mit Webmaschinen aus England und Frankreich begann die Industrialisierung. Große Spinnereien und Textilfabriken folgten. Stuttgart machte hier keine Ausnahme. Handgestrickte Strümpfe und Pullover kamen noch lange nicht aus der Mode, aber die Industrie arbeitete daran. In Stuttgart-Zuffenhausen entstand Ende des 19.Jahrhunderts die Spinnerei und Textilfabrik von Moritz Horkheimer. Während der Vater viel Geld verdiente, schmiss Sohn Max mit 15 Jahren die Schule , das Stuttgarter Dillmann-Gymnasium, um zunächst in der väterlichen Fabrik zu arbeiten. Ob es die unmittelbaren Erfahrungen dort mit sich brachten, dass er den Kapitalismus später als Philosoph umso heftiger kritisierte? Max Horkheimer spann seine eigenen Fäden und schlug die Karriere im väterlichen Unternehmen aus. Statt in Textilien machte er in Philosophie. (...)
Ein anderer Stuttgarter Textihersteller bestimmte das bekleidungstechnische Schicksal vieler Kinder um die Jahrhundertwende. Matrosenanzüge und Kleidchen mit entsprechendem Kragen waren der letzte Schrei. Die Firma Bleyle, bis 1988 als Modemarke für reifere Damen bekannt, gehörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den größten deutschen Strickwarenherstellern. Die modische Vorliebe für Maritimes spiegelte Kaiser Wilhelms Begeisterung für die Marine. Der deutsche Monarch wollte im Planschbecken für die großen Jungs auch mal auftrumpfen und die vielen Schiffchen der englischen Cousins ausstechen. 1957 verließ der letzte Matrosenanzug das Werk. Wilhelm Bleyle gründete die Firma im Jahr 1889. Zunächst schlug er sich mit Zigarrenhandel, als Buchhalter und Handelsvertreter durch. Als er sich eine Strickmaschine kaufte, um seine sechs Kinder preiswert einzukleiden, entwickelte sich daraus ein florierendes Unternehmen. Bleyle strickte sein eigenes Erfolgsrezept. Anstatt fertige Kleidungsstücke zu produzieren, ließ er große Bahnen herstellen, aus denen einzelne Teile zugeschnitten und genäht wurden. Als im zweiten Weltkrieg nur noch geschossen und nicht mehr gestrickt wurde, griffen die damaligen Geschäftsführer von Bleyle, Adolf Mann und Erich Hummel die Gelegenheit beim Schopfe, um sich selbständig zu machen. Sie erwarben 1941 die Filteranlagen-Sparte des Automobilzulieferers Mahle und stellten mit den rund 4000 Bleyle-Mitarbeitern in Ludwigsburg das Filterwerk Mann+Hummel auf die Beine, das Textil- und Filzluftfiltern für die Fahrzeugindustrie produzierte, unter anderem Luftfilter für die Maybach-Motoren HL 230. Ohne die Strickspezialisten von Bleyle hätte sich Mann+Hummel womöglich gar nicht so schnell entwickelt.
Alles für den Häuslebäuer
Der größte Spieler auf dem Bausektor, der in Stuttgart beheimatet ist, ist auch der älteste und der mit der wechselhaftesten Vita. Die Eduard Züblin AG gehört zu den größten deutschen Bauunternehmen. Im deutschen Hoch- und Ingenieurbau ist er die Nummer eins. Eduard Züblin war kein Stuttgarter. Der Schweizer Ingenieur wurde in Italien geboren und gründete in Straßburg, das damals zu Deutschland gehörte, 1898 das heutige Unternehmen. Die Geschichte des Elsass' führte dazu, dass 1919 die Niederlassung in Stuttgart zum Stammsitz auserkoren wurde. Züblin hatte sich schnell für den neuen Baustoff Eisenbeton begeistert. Auf ihn geht das Fundament des Hamburger Hauptbahnhofs zurück, der 1902 mit Eisenbetonpfählen verankert wurde sowie der Langwieser Viadukt der Bahnstrecke Chur–Arosa. Über das kühne Bauwerk aus dem Jahr 1912 gleitet der Glacier-Express heute noch.
Saft - mit und ohne Alkohol
"Vaihingen war gleichbedeutend mit Schwabenbräu. Zeitweise arbeitete die Hälfte der Bevölkerung für das Unternehmen. Der als„Vatter Leicht“ verehrte Firmengründer war eine Unternehmerpersönlichkeit vom Schlage eines Robert Bosch. 1884 nahm er in der Brauerei eine der ersten Dynamomaschinen Württembergs in Betrieb. Als anderswo noch schwere Brauereipferde die Fässer auslieferten, fuhr Leicht im Jahr 1891 als erster in Deutschland mit einem Lastwagen – natürlich von Daimler. Seine Brauerei setzte Maßstäbe. In den 1880er Jahren gab es hier das erste private Elektrizitätswerk Württembergs und eine Maschine zur künstlichen Kühlung. Eine Drahtseilbahn beförderte das Getreide von der Bahnstation in die Mälzerei Eine Faßwaschmaschine, die Leicht 1904 in Auftrag gab, fand weltweit zahlreiche Nachahmer. Die Vaihinger waren in den 1970er Jahren „Hektolitermillionär“.
Alles in Ordnung
Vielleicht ist kein Zufall, dass ausgerechnet der Leitz-Ordner in Stuttgart erfunden wurde und zum Synonym für Aktenordner wurde. Der gelernte Mechaniker Louis Leitz begründete 1871 mit seiner 'Werkstätte zur Herstellung von Metallteilen für Ordnungsmittel' ein Weltunternehmen, das seit 1998 zum schwedischen Esselte-Konzern gehört. Die schönen historischen Firmengebäude haben sich in Feuerbach erhalten, ebenso wie die revolutionäre Mechanik des Hebelordners aus dem Jahr 1896 bis heute nahezu unverändert ist. Wer nach seinem Leitz-Ordner greift – die praktische Öffnung kam 1911 hinzu – hat also immer ein ebenso traditionsreiches wie praktisches Stück Stuttgarter Wirtschaftsgeschichte in der Hand.